Sexsucht – Wenn Sex keinen Spaß mehr macht von menscore 11. Januar 2012 geschrieben von menscore Fachliche Beratung: Ärztliche Redaktion © Rafael Ben-Ari - Fotolia.com Interview mit einem Betroffenen: „Manchmal bricht mir heute noch der Schweiß aus, wenn ich an die Folgen meiner Sexsucht denke.“ Sex macht Spaß, hält jung und gesund, ist unabdingbar für eine stabile Beziehung und steigert das Selbstwertgefühl. Unter bestimmten Voraussetzungen kann er aber zu einer gefährlichen Sucht werden, die die sozialen Kontakte, den Arbeitsplatz und das seelische Gleichgewicht kostet. Und Gesundheit und Selbstbewusstsein leiden auch darunter. Martin Beyer (Name geändert), 33, über seine Sexsucht. Woran haben Sie gemerkt, dass Sie sexsüchtig sind? Schon mit 14 Jahren onanierte ich so oft und so heftig, bis es weh tat. Als Hilfsmittel mussten oft Pornos herhalten. Meine eigenen Gefühle wurden durch Bilder ersetzt; ich hatte Orgasmen, wo ich kaum recht dabei war. Mich interessierte der Orgasmus und nicht die Zärtlichkeit, deshalb spürte ich hinterher fast immer eine Leere in mir. Dieser Mechanismus setzte sich dann in meinen Beziehungen zu Mädchen und Frauen fort. Meine erste Freundin war 15 Jahre alt. Ständig spürte ich die Gier in mir, es immer und immer wieder mit ihr zu tun. Auch als sie mich bat aufzuhören, überredete ich sie nochmal; ich hatte unzählige Orgasmen, sie keinen. Als wir uns dann getrennt hatten – sie musste ja nach Hause – onanierte ich noch zwei Mal, hatte jedoch keine Befriedigung. Ich war damals 16 Jahre alt. Andere Merkmale, an denen ich meine Sexsucht erkannte, waren, dass ich zum Beispiel fast jede Frau im Bett haben wollte. Wenn ich morgens zur Schule oder zur Arbeit ging, hatte ich schon Phantasien, wie ich diese oder jene Frau ins Bett kriege. Mit 18 ging ich dann auch noch in den Puff. Ich hatte eine Freundin und ging noch dazu in den Puff oder privat zu Mädchen und onanierte auch hin und wieder auf Pornos. Lange Zeit grenzte ich mich von einigen Dingen ab, von denen ich dachte, dass sie meine Sucht schüren, z. B. Werbung, in der Sex ja eine große Rolle spielt. Freunde sagten, ich hätte wohl nur Sex im Kopf. Das wusste ich, und glaubte doch, dass es normal und mir von der Natur so gegeben sei. Dass es eine Krankheit war, verdrängte ich anfangs erfolgreich mit Tabletten, Alkohol und Nikotin. Die Sucht fing immer dann an, wenn ich das Gefühl hatte: „Schlaf mit dieser Frau, sonst fühlst du dich schlecht.“ Wenn ich sie dann nicht ins Bett bekam, war mein Wohlbefinden gestört und ich fiel in Depressionen. Was glaubten Sie, waren die Ursachen für Ihre Sexsucht? Da ist z. B. mein Elternhaus, wo Sexualität als etwas Schlimmes angesehen wurde. Mein Vater bezeichnete Frauen als Huren, die Freude am Sex hatten. Er sprach verächtlich über weibliche Geschlechtsmerkmale. Als ich elf Jahre alt war, fand ich im Nachttisch meines Vaters Pornohefte. Durch meine herrschsüchtige Mutter, die Sexualität ebenfalls als krankhaft empfand, wurde alles noch wahnsinniger. Da meine Eltern trotzdem oft über Sex sprachen, musste ich natürlich auch häufig daran denken. Das hat mich bis vor ein paar Jahren nicht mehr losgelassen. In der Zeit habe ich Frauen sexsüchtig gefickt, meine Wut, meinen Hass weggevögelt. Ich habe den Sex auch benutzt, um mich von meinen Problemen abzulenken. Irgendwann kam dann der Einbruch: Als ich mal wieder mit Wut und Hass im Bauch ins Bordell ging, um diese Gefühle an einer Nutte auszuleben, konnte ich es nicht, denn ich hatte Schuldgefühle. Es war immer derselbe Kreislauf: Nach der Befriedigung und dem Hochgefühl des Triumphs kamen schnell wieder Scham und Schuld. Aber wenn ich allein war, konnte ich das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit nicht ertragen. Das hat mich immer in solche Etablissements getrieben, und wenn ich da war, hemmte mich mein Schuldkomplex. Welche Nachteile hatten Sie durch Ihre Sexsucht? Einer der Nachteile meiner Sexsucht war, dass ich mich öfters matt und erschöpft fühlte. In der Öffentlichkeit musste ich ständig an sexuelle Abenteuer mit Frauen denken; meine Suche nach einem geilen Fick war zwanghaft, so entgingen mir oft andere wichtige Begegnungen mit Menschen. Wenn ich z.B. auf eine Veranstaltung ging, schaute ich zuerst, mit welcher Frau ich dort schlafen wollte. Das geschah unter einem Zwang. Die Veranstaltung an und für sich interessierte mich nur am Rande. Als eine Folge meiner Sexsucht fühlte ich mich von anderen Menschen zunehmend isoliert, dadurch nahm meine Suche im Sex nach Liebe zu. In den Firmen, in denen ich arbeitete, war ich oft mehr mit den Sekretärinnen beschäftigt als mit meiner Arbeit. So verlor ich einige Arbeitsstellen. Ein typischer Arbeitstag von mir: Ich hatte gerade eine Freundin, mit der ich morgens, bevor ich zur Arbeit fuhr, Sex hatte. Auf dem Weg zur Arbeit kam ich am Puff vorbei und manchmal ging ich auch da noch hinein. Eine schnelle Nummer, ich bezahlte 100 Mark, ging weiter zur Arbeitsstelle. Ich hielt mich durch Sex aufrecht, und am Arbeitsplatz, wenn meine Energie nachließ, onanierte ich auf der Toilette oder ich hatte Sex mit einer Firmenangehörigen. So verlor ich einige Arbeitsstellen. Bevor ich abends zu meiner Freundin fuhr, ging ich noch in einen Massagesalon oder zu Hostessen. Es tat mir weh, so oft Sex zu haben, und den Schmerz betäubte ich mit Alkohol oder anderen Drogen. Zum Schmerz kamen die hohen Kosten. Ich vervögelte oft über die Hälfte meines Einkommens und hatte bald hohe Schulden, obwohl ich gut verdiente. Am Ende zerbrachen echte Bindungen zu Frauen, denn ich konnte es ja nicht lange verbergen, was mit mir los war. Keine Beziehung kam so weit, dass ich hätte Liebe spüren können. 15 Jahre litt ich unter den Folgen meiner Sexabhängigkeit, manchmal bricht mir heute noch der Schweiß aus, wenn ich daran denke. Was haben Sie dagegen unternommen? Ich habe anderthalb Jahre in einer therapeutischen Wohngemeinschaft mit 20 Betroffenen zugebracht, wo wir von professionell verhaltenstherapiert wurden. Anschließend war ich ein Jahr lang in ambulanter Gesprächstherapie. Da ich danach immer noch nicht das Gefühl hatte, wirklich gesund zu sein, bin ich in eine Klinik für Psychosomatik gegangen, in der ich nach dem Zwölf-Schritte-Programm behandelt wurde. Das war ebenfalls eine Verhaltenstherapie. Seit dem bin ich in einer begleitenden Behandlung, die eine Stunde alle drei Wochen stattfindet. In dieser Zeit habe ich Einsicht in die Ursachen meiner Erkrankung gewonnen und gelernt, gegen meine Sexsucht anzugehen und dabei trotzdem noch alltagstauglich zu bleiben. Was hat Ihnen die Therapie gebracht? Ohne die Therapie hätte ich niemals Verständnis für die wahren Ursachen meiner Krankheit bekommen. Wohl die wichtigste Ursache für meine Sexabhängigkeit lag im Unterdrücken meiner Wut, meines Hasses auf meine Mutter. Mein Vater war ein schwacher Mann ohne Vorbildfunktion, aber meine Mutter war sehr dominant und stark besitzergreifend. Unter ihr hatte ich kaum Möglichkeiten, meine eigene Identität zu entwickeln. Das hat mich einerseits stark an sie gebunden, andererseits meine männliche Entwicklung gehemmt. Dafür hasse ich meine Mutter heute. Ich weiß jetzt, dass Sexsucht durch unbewusste Ängste entsteht, von einer Frau entmachtet und geradezu verschlungen zu werden. Vor meiner Therapie habe ich versucht, diese Ängste durch aggressive Sexualität loszuwerden. Wenn eine Frau selbstbewusst auftrat, fühlte ich mich ohnmächtig und aufgefordert, meine angeknackste männliche Identität wiederherzustellen, indem ich sie ins Bett bekam. Ich stand unter dem Zwang, meine nicht ausgereifte Männlichkeit und Potenz besonders zu demonstrieren. Um aus dem Schatten der alles umschlingenden Mutter herauszutreten, befreite ich mich symbolisch aus der Umklammerung meiner Bettgefährtin und ging, wenn ich einen Orgasmus hatte. Mit Sex konnte ich für kurze Zeit die Kränkungen, die meine Mutter meiner Männlichkeit zugefügt hatte, verdrängen. Aber wenn ich allein war, überwältigte mich ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit – bis ich mich zur Therapie entschloss. Der Entzug war grauenvoll, eine physischer und psychischer Spießrutenlauf durch Angstzustände, Schweißausbrüche, Zittern, Krämpfe, Erbrechen, Durchfall, das Gefühl von Lähmung und krampfartige Schmerzen im Unterleib. Mein männliches Selbstgefühl ist heute, nach der Therapie, nicht mehr so verletzlich wie damals, es ist stabiler. Was tun Sie, um nicht mehr rückfällig zu werden? Ich tue alles, um meine neugewonnene Identität zu bewahren. An erster Stelle stehen für mich dabei die Ablösung von meinen Eltern, ein gesundes Selbstwertgefühl und Kontakte zu anderen Menschen, die ähnliche Schwierigkeiten wie ich hatten oder haben. Deshalb lebe ich auch durch den Erfahrungsaustausch mit anderen. Nachdem ich solange ohne Therapie gelebt habe, ist es derzeit so, dass ich als Wegbegleitung alle drei Wochen eine Therapiestunde brauche, wobei es neben meiner Sexsucht auch darum geht, wie ich mit bestimmten Lebenssituationen fertig werde. Als Sexsüchtiger habe ich vieles verdrängt und 15 Jahre meines Lebens nicht gesehen, was wirklich wichtig ist in meinem Leben. Ich brauche nicht mehr in Sex zu flüchten. Wenn ich zum Beispiel mit einer Frau flirte, kann ich heute unterscheiden, ob es mir gut tut, mich mit ihr einzulassen oder nicht. Wenn bei mir die Alarmzeichen angehen, lasse ich die Frau stehen wie ein Alkoholiker das erste Glas. Dann gibt es da noch die gedanklichen Rückfälle. Ich fahre zum Beispiel, wenn ich einkaufen gehe, immer an meinem alten Puff vorbei, und manchmal stelle ich mir auch vor, wie es wäre, da jetzt reinzugehen. Die Lösung liegt für mich im Weiterdenken an die Folgen, und mein Bedürfnis nach dem schnellen Sex schwindet augenblicklich. Zu einigen meiner früheren Sexpartnerinnen kann ich heute endlich Freundschaft pflegen, wie ich sie früher vermisst habe, ohne es überhaupt zu merken. Ich muss sie nicht im Bett haben. Um zwischen Geilheit, Sexsucht und Sex aus Liebe zu unterscheiden, ist es für mich heute wichtig, Kontakt zu meinen Gefühlen zu haben. Ein Beispiel: Auf einer Party lernte ich Susanne kennen. Ich spürte: „Die will mit dir ins Bett.“ Dort landeten wir dann irgendwann auch. Susanne schrie: „Fick mich!“ Ich spürte, das war nicht so gemeint und sagte ihr das auch. Sie fing an zu weinen und erzählte mir von Männern, die nur das eine wollten. Vor meiner Genesung wäre Susanne für mich ein Opfer gewesen. Durch mein Verhalten kam sie erstmals mit ihrer sexuellen Co-Abhängigkeit in Berührung. Wie erleben Sie den Sex heute? Heute lebe ich Sex als Ausdruck der Nähe zu meiner Partnerin. Wenn ich keine seelische Nähe zu ihr spüre, schlafe ich auch nicht mit ihr. Ich bin in meinen Beziehungen inzwischen treu. Auf meinem Weg durch die Therapie habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Gefühlsaustausch beim Sex sehr wichtig ist. Ein angenehmer Nebeneffektist, dass ich gelernt habe, lange Zeit mit meiner Partnerin zusammen zu sein, ohne einen Orgasmus haben zu müssen. Ich spüre dann einfach ihre Nähe und wie schön es ist, neben ihr zu liegen. Heute hinterlässt mir Sex in Verbindung mit Liebe ein rundes Gefühl der Erfüllung. OrgasmusSexsuchtSucht vorheriger Beitrag Der Penis im Einsatz nächster Beitrag Ist bei Ihnen alles dicht?